Die neue Realität von Melitopol

In der südukrainischen Stadt hat Russland zum ersten Mal eine eigene Statthalterin eingesetzt

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.

Melitopols Weg in die neue politische Realität begann mit einer Entführung. Nach Kiewer Angaben wurde Iwan Fedorow, der gewählte Bürgermeister der 150 000-Einwohner-Stadt in der Südukraine, am vergangenen Freitag verschleppt. Zuvor hatte er jegliche Kooperation mit der russischen Militärverwaltung ausgeschlossen. Im Internet kursierende Aufnahmen zeigen, wie Vermummte einen Mann abführen - ukrainischen Quellen zufolge zeigen die Bilder den Moment der Festnahme Fedorows. Die Angaben lassen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen.

Fedorow sei von Kämpfern des Staatssicherheitsministeriums der sogenannten Volksrepublik Luhansk festgenommen worden, meldeten russische Nachrichtenagenturen am darauffolgenden Sonnabend. Dem 33-Jährigen, der die überwiegend russischsprachige Stadt in der Nähe des Asowschen Meeres seit zwei Jahren regiert, würden von Luhansk »terroristische Aktivitäten gegen die Zivilbevölkerung im Donbass« vorgeworfen. Zudem solle Fedorow den rechtsextremen »Rechten Sektor« finanziert haben - ein beliebter Vorwurf Moskaus, um ukrainische Politiker zu diskreditieren. Die Staatsanwaltschaft der nur von Russland, Kuba, Venezuela, Nicaragua und Syrien anerkannten Luhansker Volksrepublik ermittle nun gegen Fedorow.

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Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte umgehend die Freilassung des gewählten Politikers. Druck auf Bürgermeister oder deren »physische Eliminierung« werde Russland nicht dabei helfen, ukrainische Städte zu übernehmen, sagte er in einer Videoansprache in der Nacht zu Samstag. Das Vorgehen sei ein »Zeichen der Schwäche« Russlands. In Melitopol, das Anfang März nach mehrtägigen Kämpfen von russischen Truppen erobert wurde, demonstrierten mehrere hundert Menschen mit ukrainischen Flaggen für die Freilassung von Iwan Fedorow.

Doch eine politische Rückkehr des ukrainischen Stadtoberhauptes erscheint äußerst unwahrscheinlich: Am vergangenen Sonnabend - nur einen Tag nach der Verschleppung Fedorows - setzten die russischen Okkupationsbehörden in Melitopol die prorussische Lokalpolitikerin Galina Daniltschenko als Übergangsbürgermeisterin von Melitopol ein. Es ist das erste Mal, das die russischen Besatzungstruppen eine eigene Statthalterin installieren. Daniltschenko wurde 2015 als Abgeordnete der Partei »Oppositionsblock« in den Melitopoler Stadtrat gewählt. Politische Beobachter beschreiben die Listenvereinigung mehrerer kleiner ukrainischer Parteien als EU-kritisch und russlandfreundlich.

Die 57-jährige Abgeordnete rief die Bürger Melitopols am Sonnabend in einer Videobotschaft dazu auf, sich an die »neue Realität« anzupassen, »damit wir so bald wie möglich ein neues Leben beginnen können«. Auch den Widerstand gegen die Entführung des demokratisch gewählten Amtsvorgängers sprach Daniltschenko in dem Clip an. »Trotz unserer Anstrengungen gibt es noch immer Leute in der Stadt, die versuchen, die Situation zu destabilisieren und euch zu extremistischen Handlungen auffordern«, so Daniltschenko über den ukrainischen Widerstand in ihrer Videobotschaft. Sie wolle nun ein sogenanntes Komitee der Volksdeputierten gründen. Dieses soll künftig anstelle des gewählten Stadtrats Entscheidungen treffen. Dantlitschenko lud Abgeordnete zur Mitarbeit in dem Gremium ein.

In einem weiteren Video bedankte sich Daniltschenko bei dem tschetschenischen Oberhaupt Ramsan Kadyrow - für humanitäre Hilfslieferungen. Kadyrow hatte in der Nacht auf Montag behauptet, sich in der Ukraine aufzuhalten. In seinem Telegram-Kanal schrieb der Tschetschene, er befinde sich in Hostomel, 30 Kilometer nordwestlich von Kiew. Um den Flughafen der Stadt toben seit Kriegsbeginn erbitterte Kämpfe. Anfang März hatten Kadyrows Kämpfer vor einem Stützpunkt der ukrainischen Nationalgarde in Hostomel eine tschetschenische Flagge gehisst - und somit ihre Präsenz in der Ukraine bestätigt.

Am Tag nach Daniltschenkos Ansprache kamen die verbliebenen Abgeordneten des Melitopoler Stadtrates zu einer Sondersitzung zusammen. Auf dieser forderten die Lokalpolitiker die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Politikerin durch den ukrainischen Generalstaatsanwalt. Der Vorwurf: Errichtung einer Okkupationsverwaltung durch den »Oppositionsblock« und Hochverrat. Daniltschenko hatte zum Antritt ihrer Abgeordnetentätigkeit 2015 wie alle Abgeordneten ihren Amtseid auf die ukrainische Verfassung abgelegt.

Die ukrainische Staatsanwaltschaft folgte offenbar dem Ersuchen der Melitopoler Abgeordneten: Laut Berichten ukrainischer Medien vom Montag wurde Daniltschenko eine Mitteilung über den Beginn der Ermittlungen wegen »Staatsverrats« zugesandt. Die wichtigsten Verdachtspunkte: Daniltschenko handele in russischem Auftrag und habe aktiv an der Errichtung der Okkupationsbehörden in Melitopol teilgenommen, heißt es in dem Schreiben. Die Einrichtung des von Daniltschenko angekündigten Komitees der Volksdeputierten sei im ukrainischen Recht nicht vorgesehen. Daniltschenkos Aktivitäten zielten darauf, den Widerstand der Einwohner der Stadt gegen die Besatzungsbehörden zu unterdrücken.

Präsident Wolodymyr Selenskyj drohte der russischen Stadthalterin öffentlich mit dem Tod. Ukrainische Medien bezeichnen Daniltschenko als Verräterin oder Kollaborateurin oder - in Anlehnung an die SS-Besatzungstruppen im Zweiten Weltkrieg - als »Gauleiterin im Rock«.

Am Dienstag demonstrierten in Melitopol erneut Hunderte für die Freilassung von Bürgermeister Iwan Fedorow.

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